Wie kann das Thema der „Wiedergutmachung“ von NS-Justizverurteilten die Bildungsarbeit an Gedenkstätten und darüber hinaus bereichern? Für welche Zielgruppen ist es geeignet und in welchen Kontexten? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigten sich Expert_innen aus Deutschland, den Niederlanden und Belgien am 09.11.2023 sowie am 10.11.2023 in einem Werkstattgespräch in der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel.
Im Rahmen unseres Projektes „Ewige Zuchthäusler?!“ hatten wir Forschende, Multiplikator_innen und andere Interessierte aus Hochschulen, dem musealen Bildungsbereich, Gedenkstätten und Archiven zu einem interdisziplinären Austausch und einem Perspektivwechsel eingeladen.
Zunächst hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, in der Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel bei einer Projektpräsentation das Projekt kennenzulernen. Dazu stellte das Team die bisherigen Ergebnisse des Forschungs- und Bildungsprojekt auf vier Postern vor und kam bereits dabei mit den Gästen intensiv ins Gespräch.
In der anschließenden Fishbowl-Diskussion stand die Frage „Kann Bildung wiedergutmachen?“ im Mittelpunkt. Einig waren die Teilnehmenden sich darin, dass NS-Unrecht zwar nicht wieder gutzumachen sei – dennoch trage Bildung zu einem Ausgleich bei. Für die Verfolgten sei die Anerkennung des Unrechts zentral, ebenso wie eine Sensibilisierung der Gesellschaft.
Martina Staats (Leiterin der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel) und Dr. Andreas Grünewald Steiger (Leiter der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel) moderierten die Fishbowl-Diskussion und luden nach den Statements der Expert_innen noch zum gemeinsamen Diskutieren ein. Es sei wichtig, dass angehende Justizvollzugsfachwirt_innen ein Bewusstsein für NS-Unrecht entwickeln – dies befähige sie auch zu einer kritischen Haltung gegenüber eigenem Handeln, stellte Heidi Drescher (Leiterin des Bildungsinstituts des niedersächsischen Justizvollzuges in Wolfenbüttel) heraus. Auch Detlev Rust (Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig) hob hervor, dass es notwendig sei, dass Jurist_innen sich mit NS-Unrecht und Entschädigung auseinandersetzten – denn Justiz dürfe sich nie wieder so instrumentalisieren lassen, wie es im Nationalsozialismus der Fall war.
Prof. Dr. Peter Romijn (Forschungsdirektor i. R. am Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidforschung Amsterdam) sprach über die niederländische Debatte zu Wiedergutmachung, die auch die koloniale Vergangenheit in den Blick nehme. Er regte dazu an, die Akten mit Fokus auf die Themen „Solidarität“ und „Citizenship“ aufzuarbeiten. Leonore Martin (Fachreferentin der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft) führte kurz in die Geschichte der Stiftung EVZ ein, in der Bildungsarbeit von Beginn an als Teil der „Wiedergutmachung“ mitgedacht wurde. Dr. Elke Gryglewski (Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten) sprach sich für eine Reflexion aus, wie Wissen bei den Zielgruppen „ankommen kann“ und welche Standards hierfür eingehalten werden müssen.
Am zweiten Tag wurde in drei Panels tiefer in die Frage eingetaucht, wie die erarbeiteten Inhalte in Bildungs- und Fortbildungsangebote implementiert werden und so dauerhaft für die Bildungsarbeit nutzbar gemacht werden können. Die Teilnehmenden reflektierten, welche konkrete Chancen und Herausforderungen von Bildungsangeboten zum Thema Entschädigung für die Arbeit in Gedenkstätten (Panel I), Institutionen der Justiz (Panel II) und in Hochschulen (Panel III) bieten. Die eingeladenen Expert_innen stellten eigene Praxisbeispiele vor und berichteten aus ihren Einrichtungen und Forschungsbereichen.
Diskutiert wurde unter anderem der Begriff der „Wiedergutmachung“ – treffender sei der Begriff der „Wiedergutmachungspolitik“. Das erste Panel, so fasste Stefan Wilbricht (KZKonzentrationslager Seit März 1933 im Reichsgebiet und später in den besetzten Gebieten errichtete Haftstätten, zunächst für Gegner*innen des NS-Regimes, deren Alltag durch willkürlich ausgeübte Gewalt und Terror geprägt war. Die Gestapo war für die Einweisung von KZ-Häftlingen zuständig und bediente sich hierzu dem Instrument der sog. Schutzhaft. Die Häftlingsgemeinschaft war einer lagerinternen Hierarchie unterworfen und wurde ab 1942 verstärkt zur Zwangsarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie herangezogen. Auf diese Weise fielen tausende Insassen dem nationalsozialistischen Programm „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer. Gedenkstätte Moringen) zusammen, zeigte bereits deutlich die Potenziale des Themas. Es beleuchte die Nachwirkungen der NS-Zeit und den spezifischen Umgang mit den NS-Verbrechen. Wichtig sei, den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Teilnehmenden wiesen auch auf die bedeutende Rolle von Überlebenden und Angehörigen sowie ihren Verbänden hin. Denn Entschädigung sei „nicht einfach so passiert“, sondern das Ergebnis von Aushandlungsprozessen.
In der Zusammenfassung des zweiten Panels stellte Dr. Andreas Grünewald Steiger die Frage, wie viel Kontext bei den Bildungsprogrammen benötigt wird und bereitgestellt werden sollte, um in einen Dialog zu kommen. Bildung könne nicht als Produkt, sondern müsse als Prozess verstanden werden. Martina Staats regte zudem in Hinblick auf das dritte Panel zu Überlegungen an, wie Studierende in die Bildungsarbeit mit einbezogen und zur Auseinandersetzung mit den Akten als Quellen motiviert werden können. Mitgedacht werden müssten hier auch digitale Vermittlungsformate. Denn wie sich besonders am „Themenportal Wiedergutmachung“ zeige, stünden wir derzeit erst am Anfang der Digitalisierung von Entschädigungsakten – sie seien ein Schatz, der nun langsam erschlossen werden kann.
Klar ist, dass das Werkstattgespräch nur ein erster Auftakt war, um über die Chancen und Herausforderungen des Themas Entschädigung für die Bildungsarbeit ins Gespräch zu kommen. Wir als Projektteam nehmen viele interessante Anregungen für die erfolgreiche Umsetzung unserer Forschungsergebnisse in die Bildungsarbeit mit – denn, wie Leonore Martin hervorhob: „Die besten Bildungsangebote sind die, die auch genutzt werden.“
Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden sehr herzlich.
Hier finden Sie das Programm unseres Werkstattgespräches.