Abschiedsbrief von Georges Baert, 15. Juni 1944 (Auszug)
Bundesarchiv Berlin, R 3017/13532
Leben vor der Haft
Georges Baert lebte in der Statiestraat 194 in Lichtervelde, Belgien. Er war von Beruf Schlachter und arbeitete bis zu seiner Verhaftung in einer Schlachterei in Brüssel.
Die Statiestraat (Bahnhofsstraße), in der Georges Baert aufwuchs und bis zu seiner Verhaftung wohnte, vor 1940
Privatbesitz Benedict Wydooghe
Widerstand und Haft
Nach der deutschen Besetzung Belgiens im Mai 1940 bildeten sich in ganz Belgien verschiedene Widerstandsgruppen. Ab Dezember 1941 brachten die deutschen Besatzer Mitglieder des Widerstands als „Nacht- und Nebel“-GefangeneMindestens 7.000 des Widerstands verdächtigte Personen aus Frankreich, den Beneluxländern und Norwegen wurden in Folge des „Nacht- und Nebel“-Erlasses vom 7. Dezember 1941 ins Deutsche Reich verschleppt und dort inhaftiert. Sie wurden komplett isoliert, bekamen anstatt ihres Namens eine Nummer und durften keinen Kontakt zu Angehörigen, Mitgefangenen und zur Außenwelt aufnehmen. Viele starben in der Haft oder wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. nach Deutschland. Die Angehörigen erhielten keine Nachricht über deren Verbleib. In Lichtervelde und Torhout entstanden Anfang 1942 Widerstandsgruppen der Witte BrigadeViele flämische Widerstandsorganisationen trugen den Namen Weiße Brigade. Sie grenzten sich damit von der Schwarzen Brigade ab, die eine paramilitärische Organisation des rechtsextremen und nationalistischen Vlaams Nationaal Verbond war. (Weiße Brigade). Im Sommer 1942 verhaftete die GestapoDie Gestapo, die geheime Staatspolizei des NS-Regimes, war die politische Polizei in der NS-Zeit. zahlreiche Mitglieder der „Weißen Brigade“. Die Gefangenen wurden in das Wehrmachtsgefängnis Gent gebracht. Die Gestapo verhörte und folterte die Gefangenen in ihrer Genter Zentrale. Von Gent wurden sie über das ZuchthausDie Zuchthaushaft wurde als Freiheitsstrafe bei Kriminaldelikten zusammen mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verhängt. Die mildere Freiheitsstrafe war die Gefängnishaft. Unter dem NS-Regime wurden die im Zuchthaus verhängten Strafmaßnahmen, insbesondere Zwangsarbeit und Entbehrung, stark verschärft. Bochum in das Strafgefangenenlager Esterwegen gebracht.
Das Gefängnis Gent, Postkarte undatiert
Gedenkstätte Wolfenbüttel
Der Oberreichsanwalt beim VolksgerichtshofDer Volksgerichtshof (VGH) war das oberste politisches Gericht, das 1934 zur „Bekämpfung von Staatsfeinden“ im Dritten Reich eingerichtet wurde. Sein Sitz war in Berlin, es tagte aber auch in anderen Städten. Gegen ein Urteil des Volksgerichtshofs konnten keine Rechtsmittel eingelegt werden. Über 5.200 Todesurteile verhängte das Gericht. klagte Georges Baert wegen Mitgliedschaft in der „Weißen Brigade“ und Waffenbesitzes an. Der konkrete Vorwurf lautete, Anfang 1942 in die „Weiße Brigade“ eingetreten zu sein. Von dem Mitangeklagten Omer Vermandele habe er eine Pistole erhalten, die er später in der Widerstandsgruppe weitergegeben habe.
Der Volksgerichtshof in Leer verurteilte die 17 Angeklagten im Februar 1944 zum Tode. Sie wurden in das Strafgefängnis Wolfenbüttel verlegt, das als zentrale Hinrichtungsstätte in Norddeutschland diente. Am 15. und 16. Juni 1944 wurden die Widerstandsgruppe aus Belgien im Strafgefängnis Wolfenbüttel beziehungsweise auf dem Schießplatz in Braunschweig-Buchhorst hingerichtet. Georges Baert starb am 15. Juni um 18:54 in Wolfenbüttel durch die Guillotine. Die Angehörigen erfuhren davon erst nach Kriegsende.
Abschiedsbrief und Hinrichtung
Am 15. Juni 1944 schrieb Georges Baert einen Abschiedsbrief an seine Mutter Emma van Haelemeesch:
„Ich bitte Dich, liebe Mutter, mir und meinen verstorbenen Kameraden einen Dienst zu erweisen und unsere sterblichen Überreste nach Lichtervelde zu überführen.“
Abschiedsbrief von Georges Baert, 15. Juni 1944 (Auszug)
Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 3017/13532
Sein Abschiedsbrief wurde jedoch nicht versendet. Erst 1990 konnte er an die Familie übermittelt werden, nachdem er im Potsdamer Staatsarchiv aufgefunden worden war. Dennoch wurde dem Wunsch von Georges Baert entsprochen: Die sterblichen Überreste der Widerstandsgruppe aus Lichtervelde wurden im August 1947 auf dem katholischen Friedhof in Wolfenbüttel exhumiert, nach Belgien überführt und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt.
Feierliche Parade beim Begräbnis in Lichtervelde, 1947
Privatbesitz Marijke Callewaert
Verfahren gegen Kollaborateure
Ende 1946 wurde ein Gerichtsverfahren gegen die Belgier eröffnet, die die Widerstandsgruppe an die deutschen Besatzer verraten hatten. Emma van Haelemeesch bewahrte insgesamt zwanzig Zeitungsartikel auf, in denen über das Verfahren berichtet wurde. In dem Artikel „Kriegsgericht in Brügge - Der Fall der 17 Weißen Brigade-Männer aus Lichtervelde und Torhout“, der am 10. Dezember 1946 in der Zeitung Het Nieuwsblad erschien, zeigt sich das große Interesse der Öffentlichkeit an dem Verfahren:
„Als das Gericht den Saal betrat, drängte sich bereits eine große Menschenmenge im hinteren Teil des Saals und schaute mit Interesse auf die sechs Angeklagten, die auf der Anklagebank Platz genommen hatten.“
Übersetzt aus dem Artikel „Kriegsgericht in Brügge - Der Fall der 17 Weißen Brigade-Männer aus Lichtervelde und Torhout?“, 10.12.1946 (Auszug)
Nieuwsbode
Zeitungsartikel über das Verfahren gegen Kollaborateure, 1946–1947
Privatbesitz Benedict Wydooghe
Entschädigung
In den direkten Nachkriegsjahren erhielt Emma van Haelemeesch, Mutter von Georges Baert, aufgrund ihrer Bedürftigkeit und des Status ihres Sohnes als „politischer Gefangener“ eine monatliche finanzielle Beihilfe. Diese zunächst gezahlte Hilfe wurde ab Januar 1947 durch das belgische Familienministerium zurückgefordert. Da Emma van Haelemeesch eine Pension erhielt und sie ein kleines Haus besaß, in dem von ihrer Tochter ein Laden für Lebensmittel betrieben wurde, wurde sie rückwirkend als nicht bedürftig eingestuft.
Dazu schrieb am 30. Januar 1947 der Regeeringshulp van de Politieke Gevangenen (Hilfsdienst der Regierung für politische Gefangene) an Emma van Haelemeesch:
„Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Anwendung des Gesetzes vom 1-2 Oktober 1945 uns dazu verpflichtet, Sie aufzufordern, alle von uns in gutem Glauben an Sie geleisteten Zahlungen […] zurückzuzahlen.“
Mitgliedskarte von Emma van Haelemeesch bei der Nationalen Vereinigung der Mütter und Ehefrauen Hingerichteter und Verstorbener Politischer Gefangener, ausgestellt 1946
Privatbesitz Benedict Wydooghe
Emma van Haelemeesch versuchte die Rückzahlung mit Hilfe der Nationale Unie der Moeders en Vrouwen van Terechtgestelden un Overleden Politieke gevangenen (Nationale Vereinigung der Mütter und Ehefrauen von verstorbenen und vermissten politischen Gefangenen) abzuwenden. Sie war Mitglied dieser Vereinigung. Dieses gelang nicht, die Rückforderung wurde jedoch durch die Entnahme aus der Militärpension, die Emma van Haelemeesch aufgrund des posthum an Georges Baert verliehenen Status als „bewaffneter Widerstandskämpfer“ erhielt, abgeleistet. Die Rückzahlung wurde schließlich im April 1954 gänzlich ausgesetzt.
Im Dezember 1948 verlieh das Ministerium für nationale Verteidigung Georges Baert posthum den Status „bewaffneter Widerstandskämpfer“ und erkannte damit seine Mitgliedschaft in der Weißen Brigade an.
Emma van Haelemeesch, beantragte den „Status politischer Gefangener“ für ihren hingerichteten Sohn. Diesem Antrag wurde am 27. Januar 1949 stattgegeben.
Sie war als Mutter von Georges Baert Begünstigte des Status und erhielt eine finanzielle Entschädigung für die Haftzeit ihres Sohnes. Diese Zahlung war anders als die zurückgeforderte monatliche Beihilfe keine Fürsorgeleistung und mit keiner Bedürftigkeit verbunden.
Aus dem GlobalabkommenZwischen 1959 und 1964 schloss die Bundesrepublik Deutschland bilaterale Entschädigungsabkommen mit zwölf westeuropäischen Staaten. Darin wurden Pauschalzahlungen vereinbart, mit denen alle Entschädigungsansprüche abgegolten werden sollten. Die Verteilung der Gelder oblag jeweils dem Empfängerstaat. Belgiens mit Deutschland erhielt Emma van Haelemeesch zwischen 1962 bis 1965 ebenfalls Zahlungen.