Entschädigung für NS-Verfolgte in Belgien

Krieg und deutsche Besatzung
1940-1945

Die deutsche Wehrmacht griff Belgien am 10. Mai 1940 an. Nach der Kapitulation am 28. Mai 1940 ging die belgische Regierung ins Londoner Exil. König Leopold III. blieb als Kriegsgefangener in Belgien und unterschrieb die bedingungslose Kapitulation Belgiens – ohne die Rücksprache mit der sich im Londoner Exil befindlichen Regierung unter Hubert Pierlot.

Dies führte zu einer politischen und gesellschaftlichen Spaltung des Landes. Die Besatzung durch das Deutsche Reich war für einen großen Teil der belgischen Gesellschaft traumatisierend. 300.000 Belgier*innen, 3,75% der Gesamtbevölkerung, wurden als Zwangsarbeiter*innen oder Inhaftierte nach Deutschland deportiert. 25.000 der 90.000 Jüdinnen und Juden, die 1940 in Belgien gelebt hatten, wurden deportiert und ermordet.

Am 2. September 1944 erreichten die Alliierten die belgische Grenze und befreiten in kurzer Zeit einen Großteil des Landes von der deutschen Besatzung. Erst am 4. Februar 1945 war das gesamte Land befreit.


König Leopold III.
Foto: Willem van de Poll, 1934

Nationaal Archief

Die belgische Nachkriegsgesellschaft

In der Nachkriegszeit stand Belgien vor neuen Herausforderungen. Die Bevölkerung litt unter Hunger und Armut. Politisch war das Land instabil. Während die belgische Exilregierung nach Brüssel zurückkehrte, blieb König Leopold III. als Kriegsgefangener in Deutschland. Nach seiner Befreiung durch US-amerikanische Truppen forderten die Royalist*innen seine Rückkehr, seine Gegner*innen beschuldigten ihn der KollaborationKollaboration Bezeichnet die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialist*innen bzw. die Unterstützung der deutschen Besatzungsmacht durch Einzelne, eine Gruppe oder eine Regierung. Heimkehrenden Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter*innen wurde oft vorgeworfen, Kollaborateur*innen des NS-Regimes gewesen zu sein.. Auch die Zusammensetzung der Regierung wechselte in den ersten Jahren häufig.

Diese Karikaturen zeigen die tiefe Spaltung Belgiens in der Auseinandersetzung um Kollaboration und Widerstand. Katholische Priester sowie Anhänger von König Leopold III. werden als Kollaborateure dargestellt.

CEGESOMA Brüssel

 Verhältnis zu Kollaborateur*innen

Danny Vanhouwe
Sohn von Hector Vanhouwe, 2024

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André Charon
Sohn von André Charon, 2018

Danny Vanhouwe
Sohn von Hector Vanhouwe, 2024

Die Frage, wer als Widerständler*in oder Kollaborateur*innen galt, löste große Konflikte aus. Vor allem ging es um Ansprüche auf Entschädigungszahlungen und gesellschaftliche Anerkennung. Denn Entschädigung hieß nicht nur finanzielle Hilfe, sondern bedeutete auch eine Auszeichnung als „Held“. Jedes politische Lager versuchte, seine Interessen durchzusetzen und bei den Entschädigungsregelungen berücksichtigt zu werden.

André Charon
Sohn von André Charon, 2018

Geert Callewaert
Enkel von Eugeen Callewaert, 2023

Frühe Entschädigung ab 1944

Schon im Exil schuf die belgische Regierung erste Regelungen für Kriegsopfer. Nach Kriegsende traten zwischen 1945 und 1948 schrittweise neue Regelungen in Kraft. Diese spiegelten das politische Klima wider, da die Debatten um Entschädigung Streitigkeiten zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern auslösten. Verschiedene „Statuten der nationalen Anerkennung“ zeichneten schließlich folgende Personengruppen als NS-Verfolgte aus: Zivile Widerständler*innen und Kriegsdienstverweigerer*innen; deportierte Zwangsarbeiter*innen; politische und ausländische politische Gefangene und Widerstandskämpfer*innen der Untergrundpresse. Diese Statuten regelten auch die Entschädigungsleistungen für daraus resultierende Gefangenschaft, Deportation usw. Nicht alle Statuten waren mit finanziellen Leistungen verbunden. Das Statut für politische Gefangene umfasste die umfangreichsten Leistungen und war umstritten. Für den Erhalt des Titels waren „patriotische oder selbstlose Gründe“ notwendig. Dieses schloss u.a. rassistisch Verfolgte aus. Darüber hinaus gab es Renten, die NS-Opfer für physische Schäden kompensieren sollten. Die Höhe der Entschädigung richtete sich dabei nach der Höhe der Invalidität.

Übersicht über die Anträge auf den Status „Politischer Gefangener“

Abgelehnte Anträge: 17.999
Begünstigte des Status: 41.135
Anträge gesamt: 59.134

Am 26. Februar 1947 wurde das Statuut der politieke gevangenen (politische Gefangene) verabschiedet. Berücksichtigt wurden Menschen belgischer Nationalität, die aufgrund ihrer politischen oder philosophischen Ansichten entweder länger als 30 Tage in Gefangenschaft gewesen waren, schwerwiegende Misshandlung erfahren hatten oder zum Tode verurteilt beziehungsweise hingerichtet worden waren. Eine Anerkennung als politischer Gefangener berechtigte unter anderem zu einer Entschädigung von 1.500 belgischen Francs pro Monat der Haft sowie eine zusätzliche jährliche Entschädigung von 3.000 belgischen Francs pro sechs Monaten Freiheitsentzug, Anspruch im Falle einer Invalidität auf eine Rente sowie weitere verschiedene Sozialhilfen und Vergünstigungen.

Konflikte um die Statuten

André Charon
Sohn von André Charon, 2018

Diese Karte mit Konzentrationslagern und Strafgefängnissen wurde in der Nachkriegszeit in Belgien für 5 Franc als Zeichen der Solidarität mit den politischen Gefangenen verkauft.

Privatbesitz Danny Vanhouwe

Geert Callewaert
Enkel von Eugeen Callewaert, 2023

Danny Vanhouwe
Sohn von Hector Vanhouwe, 2024

Im September 1946 wurde in Belgien die Nationale Confederatie van Politieke Gevangenen en hun Rechthebbenden (Nationale VereinigungNasjonal Samling Die „Nationale Vereinigung“ war die von Vikun Quisling 1933 gegründete faschistische Partei Norwegens, die ab September 1940 als einzig zugelassene Partei und unter seiner Führung ab Februar 1942 als Regierungspartei agierte und bei Kapitulation im Mai 1945 ca. 50.000 Mitglieder umfasste.   der politischen Gefangenen und ihrer Anspruchsberechtigten, NCPGR) gegründet. Die NCPGR ist eine Organisation, die alle Ehemaligenverbände der Konzentrationslager und Gefängnisse wie beispielweise den Überlebendenverband der politischen Gefangenen des Strafgefängnisses Wolfenbüttels, die Amicale des Prisonniers Politiques Rescapés de WolfenbüttelAmicale des Prisonniers Politiques Rescapés de Wolfenbüttel Ehemalige belgische Inhaftierte des Strafgefängnisses Wolfenbüttel gründeten 1948 einen Überlebendenverband der politischen Gefangenen. Als Symbol ihres Verbandes bestimmten sie die Guillotine. Der Verband diente den Mitgliedern zum Austausch über Verfolgungs- und Hafterfahrungen, als Interessenvertretung, unter anderem für soziale und medizinische Hilfen sowie für die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen., sowie regionale und nationale Opferverbände als Dachverband vertritt. Die in dieser Vereinigung zusammengeschlossenen ehemaligen politischen Gefangenen übten Druck auf die belgische Regierung aus und erhoben Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung.

Gefangenenverbände wie die NCPGR oder der Überlebendenverband der politischen Gefangenen des Strafgefängnisses Wolfenbüttels, die Amicale des Prisonniers Politiques Rescapés de Wolfenbüttel, unterstützen ihre Mitglieder bei der Anerkennung ihrer Interessen.

Gedenkstätte Wolfenbüttel

Auch heute noch besuchen Mitgliedsverbände der NCPGR die ehemaligen Haftorte belgischer Widerstandskämpfer*innen und halten Gedenkzeremonien ab, wie hier im Hinrichtungsgebäude der Gedenkstätte Wolfenbüttel im August 2023.

Gedenkstätte Wolfenbüttel

Aufgaben der Amicale

André Charon
Sohn von André Charon, 2018

Das GlobalabkommenGlobalabkommen Zwischen 1959 und 1964 schloss die Bundesrepublik Deutschland bilaterale Entschädigungsabkommen mit zwölf westeuropäischen Staaten. Darin wurden Pauschalzahlungen vereinbart, mit denen alle Entschädigungsansprüche abgegolten werden sollten. Die Verteilung der Gelder oblag jeweils dem Empfängerstaat. mit der Bundesrepublik Deutschland 1962-1965

Ein Zeitungsartikel vom August 1961 informiert über die Auszahlung von einer Milliarde Franc an ehemalige politische Gefangene.

Le Peuple, 25.08.1961

Erst Mitte der 1950er Jahre war die Bundesrepublik bereit, ausländische NS-Verfolgte zu entschädigen, und trat unter anderem mit Belgien in Verhandlungen. Eine Schwierigkeit dabei war die Frage, welche Personengruppen Leistungen erhalten sollten. Während Belgien vor allem eine Entschädigung für Widerstandskämpfer*innen einforderte, waren diese aus Perspektive der BRD nicht anspruchsberechtigt.

Belgien legte trotzdem in den ersten Verhandlungen eine Liste von 129.077 zu berücksichtigenden Personen vor, die aus KZ-Häftlingen, Widerstandskämpfer*innen, Inhaber*innen des so genannten Judensterns und Verstorbenen sowie aus Nicht-Bürger*innen auf belgischem Staatsgebiet bestand. Die Bundesrepublik erkannte aus dieser Gruppe jedoch nur 30.000 als entschädigungsberechtigte Personen an. Nach langwierigen Verhandlungen einigten sich die Vertreter*innen beider Staaten auf eine Zahlung von 80 Millionen DM. Dies entsprach einer Milliarde belgischer Franc und wurde darum in Belgien als Fond du MilliardGlobalabkommen Zwischen 1959 und 1964 schloss die Bundesrepublik Deutschland bilaterale Entschädigungsabkommen mit zwölf westeuropäischen Staaten. Darin wurden Pauschalzahlungen vereinbart, mit denen alle Entschädigungsansprüche abgegolten werden sollten. Die Verteilung der Gelder oblag jeweils dem Empfängerstaat. bezeichnet. Zahlungen konnten Berechtigte des Status politischer Gefangener beantragen. Damit waren beispielsweise aus rassistischen Gründen Verfolgte erneut ausgeschlossen.

Entschädigung für Zwangsarbeiter*innen 2000-2007

Ende der 1990er Jahre zeichnete sich die Gewährung von Entschädigungsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter*innen durch die Bundesrepublik Deutschland ab. Diese Entwicklung wurde in Belgien von Überlebendenverbänden und der Presse kritisch verfolgt.

Diese Entwicklung mündete im Jahr 2000 in die Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ (EVZ). Stiftungsaufgabe war die Gewährung von individuellen Einmalzahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter*innen.

Ehemals im Strafgefängnis Wolfenbüttel Inhaftierte waren aufgrund des Status des Strafgefängnisses Wolfenbüttel als KZ-ähnliche Haftstätte grundsätzlich leistungsberechtigt. In Belgien, wie auch in anderen westeuropäischen Ländern, informierte die Internationale Organisation für Migration (IOM) über die Möglichkeit, Entschädigungsanträge zu stellen und war für die Bearbeitung der Anträge zuständig.

Ein belgischer Zeitungsartikel beanstandet die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter*innen seitens der Bundesrepublik, um 2000

Het Laatste Nieuws 

Bekanntmachung der Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter*innen durch die IOM, um 2000

CEGESOMA Brüssel