Interview mit Martin Kentie, Sohn von Cornelis Kentie, 2023
Gedenkstätte Wolfenbüttel
Leben vor der Haft
Cornelis Kentie wurde am 28. September 1919 in Rotterdam geboren und wuchs in einem evangelisch geprägten Elternhaus auf. 1941 begann er bei der niederländischen Post (P.T.T.) als Postfacharbeiter zu arbeiten. Ein Jahr später, im Alter von 23 Jahren, wurde er von seinem Arbeitgeber zur deutschen Reichspost nach Hannover zwangsversetzt. Am 19. November 1942 kam er mit dem Zug in Hannover an. Dort wurde er in unterschiedlichen Lagern untergebracht. In manchen lebten die Arbeiter auf engstem Raum, die Hygienebedingungen waren ebenso wie die Versorgung mit Nahrungsmitteln schlecht. Die Postarbeiter hungerten, Cornelis Kentie erhielt – anders als andere Arbeiter – keine Pakete mit Nahrungsmitteln von seiner Familie aus den Niederlanden.
Verhaftung und Verurteilung
Etwa ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Hannover, im April 1943, wurde Cornelis Kentie verhaftet. Bei ihm waren 47 Pakete mit Feldpost für Wehrmachtssoldaten an der Front gefunden worden, aus denen er Kuchen, Zigaretten und einen Füllfederhalter gestohlen hatte. Zunächst kam er in das Polizeigefängnis Hannover. Am 21. Mai 1943 verurteilte ihn das SondergerichtAb dem 21. März 1933 in jedem Oberlandesgerichtsbezirk eingerichtet, dienten die Sondergerichte der schnellen strafrechtlichen Ahndung regimekritischen Verhaltens. In sog. Schnellverfahren wurden mehrere 1.000 Menschen unterschiedlicher Herkunft zum Tode verurteilt. Celle zum Tode. Seine Begründung, er habe aus Hunger gestohlen, wirkte sich nicht strafmildernd auf sein Urteil aus. Cornelis Kentie stellte ein Gnadengesuch, dem der Reichsminister der Justiz im September 1943 stattgab. Seine Strafe wurde in 10 Jahre ZuchthausDie Zuchthaushaft wurde als Freiheitsstrafe bei Kriminaldelikten zusammen mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verhängt. Die mildere Freiheitsstrafe war die Gefängnishaft. Unter dem NS-Regime wurden die im Zuchthaus verhängten Strafmaßnahmen, insbesondere Zwangsarbeit und Entbehrung, stark verschärft. umgewandelt. Diese Abmilderung des Urteils war eine Ausnahme.
Haft und Zwangsarbeit
Im Juni 1943 wurde Cornelis Kentie in das Strafgefängnis Wolfenbüttel verlegt. Ursprünglich sollte hier sein Todesurteil vollstreckt werden. Er musste dort ZwangsarbeitIm Verlauf des Zweiten Weltkriegs arbeiteten über 13 Millionen zivile Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene und Inhaftierte unter Zwang im Deutschen Reich. Sie waren vor allem in der Rüstungsindustrie und in der Landwirtschaft eingesetzt. leisten und arbeitete unter anderem für die Gummiverarbeitungsfirma Schroers & Simmerling. Die Arbeit war hart und die Versorgung der Gefangenen wurde im Laufe des Krieges immer schlechter. Schließlich verlegte die Oberstaatsanwaltschaft des Sondergerichts Hannover Cornelis Kentie Ende Mai 1944 in das Zuchthaus Celle. Er erkrankte an Tuberkulose und wurde vier Monate in der Krankenstation behandelt. Aufgrund des Frontverlaufs wurde er am 6. April 1945 erneut in das Strafgefängnis Wolfenbüttel verlegt. Am 11. April befreiten US-amerikanische Truppen das Strafgefängnis.
Cornelis Kentie nach seiner Ankunft im Zuchthaus Celle, Juni 1944
NIOD Amsterdam, archive 214, inventory number 621
"Ich hatte noch nie Fotos von ihm gesehen, auf denen er noch jung war."
Theo Kentie
Sohn von Cornelis Kentie
2023
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Mehr InformationenRückkehr in die Niederlande
Im Juni 1945 kehrte Cornelis Kentie zurück nach Rotterdam. Aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustandes verbrachte er vermutlich mehrere Monate im Hilfskrankenhaus des Roten Kreuzes in der Mecklenburglaan in Kralingen. Im Krankenhaus lernte er seine zukünftige Frau kennen, die dort als Hilfskrankenschwester arbeitete. Im November 1946 heiratete das Paar, im Juni 1947 wurde der erste Sohn geboren.
Cornelis Kentie und seine Frau (rechts), vermutlich im Sommer 1946
Standbild aus dem Film „Rode Kruis 1945“, Privatbesitz Theo Kentie
Im durch die Alliierten besetzten Deutschland galt seine Strafe weiterhin, die Oberstaatsanwaltschaft suchte nach Cornelis Kentie. Sie schloss den Fall Anfang 1946, da er nicht aufgefunden werden konnte. Cornelis Kentie begann erneut für die niederländische Post (P.T.T) zu arbeiten.
Erinnerungen an die Kindheit
Martin Kentie
Sohn von Cornelis Kentie
2023
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Mehr InformationenBei seinem vermeintlich 25. Dienstjubiläum stellte sich heraus, dass die P.T.T. seine Haftzeit nicht als Dienstjahre anerkannte. Aufgrund seines Diebstahls war ihm 1946 rückwirkend für Dezember 1943 gekündigt worden. Auch von den niederländischen Behörden wurde das Urteil des nationalsozialistischen Sondergerichts wegen Diebstahls also weiterhin anerkannt. Damit fiel auch seine Rentenzahlung geringer aus.
Notizzettel von Cornelis Kentie mit der Auflistung seiner Dienstjahre.
Privatbesitz Theo Kentie
Entschädigung
Cornelis Kentie beantragte im September 1976 bei der niederländischen Sozialversicherungsbank SVB Leistungen nach Verfolgtenrentengesetz (WUV). Leistungen aus dem GlobalabkommenZwischen 1959 und 1964 schloss die Bundesrepublik Deutschland bilaterale Entschädigungsabkommen mit zwölf westeuropäischen Staaten. Darin wurden Pauschalzahlungen vereinbart, mit denen alle Entschädigungsansprüche abgegolten werden sollten. Die Verteilung der Gelder oblag jeweils dem Empfängerstaat. hatte er in den 1960er Jahren nicht beantragt – vermutlich auch, weil er die Erfolgschancen als gering einschätzte. Die Sozialversicherungsbank holte bei verschiedenen Stellen Informationen ein, unter anderem beim Deutschen Roten Kreuz, bei der P.T.T. und beim ITS Arolsen.
Im Zentrum stand die Frage: War Cornelis Kentie Verfolgter des Nationalsozialismus? Außer Frage stand hingegen auch für die SVB, dass er körperliche und psychische Schäden durch seine Gefangenschaft davongetragen hatte. Schließlich erkannte die Sozialversicherungsbank übereinstimmend mit dem Roten Kreuz und der P.T.T. Cornelis Kentie nicht als Verfolgten des Nationalsozialismus an.
„Und Kuchen stehlen ist kein Widerstand“
Theo Kentie
Sohn von Cornelis Kentie
2023
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Mehr Informationen„Das finde ich bis heute noch eine große Schande!“
Martin Kentie
Sohn von Cornelis Kentie
2023
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Mehr InformationenAuswirkungen auf die Familie
Cornelis Kentie sprach nicht über seine Haftzeit und sein Todesurteil. Dennoch belastete seine Vergangenheit sein Leben und das seiner Familie. Er hatte unter der Haft körperlich und psychisch gelitten. Bei der Post musste er weiterhin körperlich anstrengende Arbeit verrichten. Obwohl er nicht über seine eigenen Erlebnisse sprach, setzte er sich intensiv mit der Vergangenheit und der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander.
Die Tatsache, dass Cornelis Kentie nie als Verfolgter der NS-Justiz anerkannt wurde, wirkte sich nicht nur finanziell negativ auf die Familie aus. Seine Stigmatisierung als vermeintlich Krimineller reichte weit bis in die 1970er Jahre. Für seine Söhne bleibt es bis in die Gegenwart eine Ungerechtigkeit, die nie aufgelöst wurde.
„Ihm wurde etwas genommen“
Martin Kentie
Sohn von Cornelis Kentie
2023
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