Widerspruch von Theresia Bosel-Münz gegen die Ablehnung des Status “politischer GefangenerStatut „politischer Gefangener“ Das im Februar 1947 in Belgien verabschiedete Statut berücksichtigte Menschen belgischer Nationalität, die aus politischen Gründen länger als 30 Tage in Gefangenschaft waren, Misshandlung erlitten oder hingerichtet worden waren. Es unterschied zwischen „Begünstigten“ und Personen, denen aus „patriotischen oder selbstlosen Gründen“ ein Titel verliehen wurde, was viele jüdische Verfolgte ausschloss. Auch Angehörige konnten Anträge für Verstorbene stellen.” ihres Ehemannes Alfred Bosel, eingegangen 9. Juni 1951 (Auszug)

Archivdienst für Kriegsopfer, Belgisches Staatsarchiv, Statut Prisonnier Politique Étranger, PP E AD 32796 cal 579
Alfred Bosel Portrait

Alfred Bosel

16. Juni 1904 – 4. Juli 1945

Leben vor der Haft

Alfred Bosel wurde am 16. Juni 1904 in Wien geboren. Er war kaufmännischer Angestellter. Im Dezember 1930 heiratete er Theresia Münz, mit der er zwei Kinder bekam, Marlene und Leopold. Alfred Bosel war Jude und wanderte mit seiner Frau und den zwei Kindern nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich nach Brüssel aus.

Auszug aus dem Urteil, 21. Januar 1942

NLA Abteilung Wolfenbüttel

Verhaftung und Verurteilung

Am 30. Juni 1941 wurde Alfred Bosel verhaftet und im Wehrmachtsgefängnis Brüssel-St. Gilles inhaftiert. Er blieb in Untersuchungshaft, bis ihn die OberfeldkommandanturOberfeldkommandantur Oberfeldkommandaturen und Feldkommandanturen beaufsichtigten die Verwaltung der besetzten Gebiete auf Regional- bzw. Provinzebene. Sie waren durch ein eigenes Gericht auch Justiziarstelle für deutsche Besatzungstruppen und die einheimische Bevölkerung. 672 Brüssel am 21. Januar 1942 verurteilte.

Er hatte laut Urteil Passierscheine für zehn bis 50 Reichsmark an jüdische Verfolgte verkauft, die damit aus Belgien und Nordfrankreich nach England ausreisen konnten. Zuvor hatte er die Passierscheine von dem deutschen Wehrmachtsangehörigen und NSDAP-Mitglied Erwin Benedek erworben. Dieser hatte die Dokumente von der Passierscheinstelle IV in Brüssel entwendet und gefälscht.

Mitangeklagt war zudem der Jude Hugo Stark, der wie Alfred Bosel nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich nach Brüssel ausgewandert war. Erwin Benedek hatte Hugo Stark ebenfalls entwendete und gefälschte Passierscheine verkauft.

Die Urteilsschrift bediente in Bezug auf den jüdischen Angeklagten Alfred Bosel bei der Strafzumessung zu seinen Ungunsten verschiedene antisemitischeAntisemitismus Abneigung oder Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden. Antisemitismus war zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Die Nationalsozialisten wollten die gesamte jüdische Bevölkerung Europas vernichten. Vorurteile. Obwohl Erwin Benedek laut Urteil die Passierscheine entwendet und gefälscht hatte, wurde Alfred Bosel als Initiator der Tathergänge dargestellt, der den „gutgläubigen“ Erwin Benedek zur Mithilfe anstiftete, indem er ihn „verführt“ habe. Dieser wäre ohne Alfred Bosel „nie auf die Idee gekommen, Passierscheine gegen Entgelt fälschlicherweise herzustellen“. Erwin Benedek hätte sich in einem Netz wiedergefunden, welches Alfred Bosel um ihn gesponnen hatte.

Alfred Bosel wurde wie Erwin Benedek, obwohl dieser die Passierscheine entwendet und gefälscht hatte, zu einer Strafe von drei Jahren Haft verurteilt. Hugo Stark erhielt eine Strafe von drei Jahren und sechs Monaten Haft.

Haftzeit

Noch während seiner Untersuchungshaft bat Alfred Bosel den Kommandanten des Wehrmachtsgefängnisses seiner Frau seine Armbanduhr geben zu dürfen, da sie und die beiden Kinder mittellos seien. Dieser Bitte wurde stattgegeben. Schon vor der Haft litt Alfred Bosel unter starken gesundheitlichen Beschwerden wie Darmleiden und Gelenkrheuma. Da er das Essen im Wehrmachtsgefängnis St. Gilles eigenen Aussagen zufolge nicht vertrug, stellte er im Juli 1942 einen Antrag, dass ihm seine Frau wöchentlich ein Lebensmittelpaket schicken durfte. Dieses wurde durch den Kommandanten genehmigt.

Im anschließenden Verlauf seiner Haft wurde er mehrmals für verschiedene Zeiträume in Lazaretten behandelt. Nachdem er nach der Urteilsverkündung in verschiedenen Strafgefängnissen im besetzten Belgien und Frankreich inhaftiert worden war, zuletzt in der Strafanstalt Merksplas, wurde Alfred Bosel schließlich im April 1943 in das Strafgefangenenlager Neusustrum (Ems) verlegt. Dieses geschah aufgrund einer Anordnung des Reichsministers der Justiz zur Überführung von Belgiern in das Heimatkriegsgebiet vom 14. März 1943.

Lebenslauf, den Alfred Bosel im Strafgefangenenlager Neusustrum (Ems) schreiben musste, 7. April 1943

NLA Abteilung Wolfenbüttel
Alfred Bosel Lebenslauf Strafgefangenenlager Neusustrum

In diesem Strafgefangenenlager wurden die Gefangenen gezwungen, je nach Jahreszeit täglich acht bis zwölf Stunden schwerste Arbeiten wie Entwässerung, Straßen- und Wegebau sowie Torfabbau im Moor zu verrichten. Alfred Bosel wurde nach wenigen Wochen zurück nach Belgien verlegt. Der Lagerarzt hatte ihn am 22. April 1943 für einen Strafvollzug im Strafgefangenenlager Neusustrum (Ems) aufgrund seines Gesundheitszustandes für „mooruntauglich“ erklärt.

Im Anschluss an eine viermonatige Haft im Gefängnis Merksplas in Belgien wurde er für die restliche Haftzeit in das Strafgefängnis Wolfenbüttel gebracht, in dem er im Oktober 1943 ankam. Diese Verlegung ging auf eine Verfügung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 13. Oktober 1943 zurück, der zufolge durch Wehrmachtsgerichte verurteilte Belgier*innen in das „Heimatkriegsgebiet“ gebracht werden sollten.

Anfangs musste er laut Arbeitskarte unter anderem auf dem Holzhof arbeiten, auf dem vornehmlich ältere und kranke Gefangene Brennholz herstellten. Ab dem 23. Oktober 1943 wurde er dem besonders aufgrund der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen gefürchteten Außenarbeitsort Braunschweiger Kalk- und Mergelwerke, Kalkwerk Bahl & Co., Wolfenbüttel für Kalkbrucharbeiten zugewiesen.

Verlegung in KonzentrationslagerKonzentrationslager Seit März 1933 im Reichsgebiet und später in den besetzten Gebieten errichtete Haftstätten, zunächst für Gegner*innen des NS-Regimes, deren Alltag durch willkürlich ausgeübte Gewalt und Terror geprägt war. Die Gestapo war für die Einweisung von KZ-Häftlingen zuständig und bediente sich hierzu dem Instrument der sog. Schutzhaft. Die Häftlingsgemeinschaft war einer lagerinternen Hierarchie unterworfen und wurde ab 1942 verstärkt zur Zwangsarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie herangezogen. Auf diese Weise fielen tausende Insassen dem nationalsozialistischen Programm „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer.
und BefreiungBefreiung Belgien: Das komplette Staatsgebiet Belgiens wurde am 4. Februar 1945 befreit. Niederlande: Im September 1944 konnte durch die Alliierten nur ein kleiner Teil im Süden der Niederlande befreit werden. Das restliche Staatsgebiet wurde am 5. Mai 1945 befreit. Norwegen: Die Besatzung endete mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945.

Für Alfred Bosel war das reguläre Strafende für den 31. Juli 1944 angesetzt. Er wurde jedoch am 21. August 1944 durch die GestapoGestapo Die Gestapo, die geheime Staatspolizei des NS-Regimes, war die politische Polizei in der NS-Zeit. Braunschweig aus dem Strafgefängnis Wolfenbüttel abgeholt und in das KZKonzentrationslager Seit März 1933 im Reichsgebiet und später in den besetzten Gebieten errichtete Haftstätten, zunächst für Gegner*innen des NS-Regimes, deren Alltag durch willkürlich ausgeübte Gewalt und Terror geprägt war. Die Gestapo war für die Einweisung von KZ-Häftlingen zuständig und bediente sich hierzu dem Instrument der sog. Schutzhaft. Die Häftlingsgemeinschaft war einer lagerinternen Hierarchie unterworfen und wurde ab 1942 verstärkt zur Zwangsarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie herangezogen. Auf diese Weise fielen tausende Insassen dem nationalsozialistischen Programm „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer. Neuengamme überstellt. Von dort wurde er am 12. April 1945 zusammen mit 9.500 KZ-Häftlingen des KZ Neuengamme aufgrund der heranrückenden Alliierten auf einen Räumungstransport in das Kriegsgefangenenlager Sandbostel geschickt.

Nach der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel am 29. April 1945 durch britische Einheiten wurde Alfred Bosel in das britische Militärkrankenhaus Nr. 86 in Rotenburg und von dort am 26. Juni 1945 für bessere Behandlungsmöglichkeiten in das Krankenhaus St. Pierre in Brüssel gebracht. Zu diesem Zeitpunkt wog er nur noch 33,4 Kilogramm. Trotz der Bemühungen um sein Leben und ärztlicher Behandlungen starb Alfred Bosel wenige Wochen nach seiner Ankunft am 4. Juli 1945 im Krankenhaus St. Pierre in Brüssel.

Entschädigung

Da Alfred Bosel einen provisorischen Status als „politischer Gefangener“ hatte, erhielt seine Witwe Theresia Bosel-Münz aufgrund eines Gesetzes vom 21. Dezember 1944 für kurze Zeit eine monatliche Beihilfe in Form einer Geldzahlung durch den belgischen Staat.

Alfred Bosel Berechtigungskarte Theresia Bosel Münz Seite 1
Alfred Bosel Berechtigungskarte Theresia Bosel Münz Seite 2

Berechtigungskarte von Theresia Bosel-Münz zur Zahlung einer monatlichen Beihilfe, nach 1944

Archivdienst für Kriegsopfer, Belgisches Staatsarchiv, 
Statut Prisonnier Politique Étranger, PP E AD 32796 cal 579

Sie beantragte zudem am 18. Juli 1947 den Status eines „politischen Gefangenen“ posthum für ihren verstorbenen Mann Alfred Bosel, um eine Anerkennung und finanzielle Entschädigung für die Haftzeit ihres Mannes zu erhalten.

Antrag auf den Status „politischer Gefangener“ durch Theresia Bosel-Münz, 18. Juni 1947

Archivdienst für Kriegsopfer, Belgisches Staatsarchiv, 
Statut Prisonnier Politique Étranger, PP E AD 32796 cal 579
Alfred Bosel Antrag Politischer Gefangener Seite 1
Alfred Bosel Antrag Politischer Gefangener Seite 2

Für die Kommission des belgischen Ministerie for Wederopbouw (Ministeriums für Wiederaufbau), die über den Antrag entschied, galt die Fälschung von Passierscheinen und deren Verkauf nicht als „uneigennützige patriotische Aktivität gegen die Besatzungsmacht“. Darum wurde der Antrag am 2. April 1951 abgelehnt. Gegen diesen Beschluss des Ministeriums für Wiederaufbau legte Theresia Bosel-Münz am 9. Juni 1951 Einspruch ein.

„Ich erlaube mir hiermit, gegen diese Entscheidung Berufung einzulegen und begründe dies damit, dass die patriotischen Aktivitäten meines verstorbenen Ehemanns, der während der Besetzung des Landes in Belgien gegen den Feind eingesetzt war, selbstlos waren.“

Archivdienst für Kriegsopfer, Belgisches Staatsarchiv, 
Statut Prisonnier Politique Étranger, PP E AD 32796 cal 579 (Auszug)

Widerspruch von Theresia Bosel-Münz gegen die Ablehnung des Status „politischer Gefangener“, eingegangen am 9. Juni 1951

Archivdienst für Kriegsopfer, Belgisches Staatsarchiv, 
Statut Prisonnier Politique Étranger, PP E AD 32796[SM(1] [PD(2]  cal 579

Die Revision wurde geprüft, jedoch im November 1951 abgelehnt.  Die antisemitischen Vorurteile, die in der Urteilsschrift klar formuliert waren und das Strafmaß erhöhten, fanden in dem Entschädigungsverfahren keine Beachtung.

Am 8. November 1948 stellte Theresia Bosel-Münz zudem einen Antrag für eine posthume Anerkennung ihres verstorbenen Mannes als „ziviler WiderstandskämpferStatut „ziviler Widerstandskämpfer“ Im Dezember 1946 in Belgien verabschiedetes Statut. Anspruchsberechtigt für dieses Statut waren Personen belgischer Nationalität, die aktiv am Kampf gegen den Feind teilgenommen hatten, jedoch kein Teil einer bewaffneten Widerstandsgruppe gewesen waren.“. Dieser Antrag wurde am 9. Mai 1952 durch die zuständige Kommission des Ministeriums für Wiederaufbau abgelehnt. Auch hier erkannte die Kommission Alfred Bosels Handeln nicht als uneigennützig an.

Die antisemitischAntisemitismus Abneigung oder Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden. Antisemitismus war zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Die Nationalsozialisten wollten die gesamte jüdische Bevölkerung Europas vernichten. motivierte Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialist*innen fand in der direkten Nachkriegszeit in Belgien kaum Beachtung. Stattdessen lag der Fokus auf Widerstandsaktivitäten, ob politisch, bewaffnet oder zivil. In der direkten Nachkriegszeit erhielt Theresia Bosel-Münz zwar für kurze Zeit finanzielle Unterstützung als Witwe eines vorläufig anerkannten „politischen Gefangenen“. Den regulären Status eines „politischen Gefangenen“ erhielt Alfred Bosel posthum jedoch nicht, die Kriterien für die Anerkennung wurden schnell verschärft.

Erst viele Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs erließ die belgische Regierung Regelungen zur Entschädigung von Belgier*innen, die Opfer der antisemitisch motivierten Verfolgung geworden waren.